Internationale Psychoanalyse, Band 14 – Einleitung

Der vorliegende 14. Band der Reihe „Internationale Psychoanalyse“ enthält eine Auswahl von insgesamt 11 Artikeln des International Journal of Psychoanalysis (IJP). Ziel dieser Reihe ist es, dem deutschsprachigen Leser wichtige Texte von internationalen psychoanalytischen Autoren, die bisher nur auf Englisch veröffentlicht worden sind, auf Deutsch zur Verfügung zu stellen. Die Texte entstammen den sechs Heften des IJP, die zwischen Dezember 2017 und Oktober 2018 publiziert worden sind. Sie wurden in einem sorgfältigen und aufwändigen Prozess der Abstimmung von den zehn Mitgliedern des Übersetzerbeirates ausgewählt, die die Texte (mit Ausnahme des Artikels von D. Habibi-Kohlen, die uns die deutsche Originalversion zur Verfügung stellte) selbst übersetzt und redigiert haben. Mein Dank gilt daher allen Mitgliedern unseres Beirates, die mit ihrem großen Einsatz, mit ihrem Engagement für die Verbreitung psychoanalytischer Ideen und mit ihrer Freude am Übersetzen diesen Band möglich gemacht haben: Isolde Böhme / Köln, Irene Bozetti / Bremen, Harald Kamm / Bamberg, Anna-Kathrin Oesterle-Stephan / Berlin, Thomas Reitter / Heidelberg, Richard Rink / Köln, Stefanie Sedlacek / Berlin, Timo Storck / Heidelberg und Gudrun Wollber / Hamburg. Wie schon in früheren Jahren wurden wir auch diesmal wieder bei der Lektoratsarbeit in bewährter Weise von Antje Vaihinger / Gießen unterstützt, die uns mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung als Kollegin und Übersetzerin zur Seite gestanden hat und der mein besonderer Dank gilt. Christoph Schmidt / Berlin hat uns bei der bibliografischen Arbeit und der Zitat-Recherche eine unentbehrliche Hilfe geleistet, für die wir ihm herzlich danken.

 

Wir haben bei der Auswahl für den diesjährigen Band auf die Bildung eines Schwerpunktes verzichtet. Das Hauptgewicht bilden Texte, die aus unserer Sicht wichtig für die Weiterentwicklung theoretischer Konzepte und für die klinische Arbeit als Psychoanalytiker sind. Auf die Suche nach den Reverien des Analytikers macht sich Fred Busch (Chestnut Hill / MA, USA). Von einem eher Freudianischen Hintergrund her kommend möchte er untersuchen, was Analytiker, die in der Tradition von W. Bion stehen, mit dem Begriff Reverie meinen und welche Unterschiede zwischen ihnen bestehen. Er beschreibt zunächst die – eher spärlichen – Verwendungen des Begriffs bei Bion selbst, der damit vor allem auf die Fähigkeit der Mutter zur Aufnahme und Neutralisierung der Gefühlsstürme ihres Babys abgehoben hatte. Diese Gedanken wurden dann von ihm auf die analytische Situation übertragen. Heute wird der Begriff viel eher im Sinne eines besonderen Zustandes in der Psyche des Analytikers verwendet, eines Traum-ähnlichen Zustandes, von dem angenommen wird, dass er zur Transformation im Patienten führt. Bush beschäftigt sich dann mit drei verschiedenen zeitgenössischen Autoren, um deren Verwendung des Reverie-Begriffes eingehend zu untersuchen: Th. Ogdon, E. und E. da Rocha Barros und A. Ferro. Während Ogden und Ferro die Fähigkeit des Analytikers, eine Reverie zu haben, für sich bereits als transformierend auffassen, ist für die da Rocha Barros die Reverie nur ein erster Schritt, um die dadurch gewonnenen psychischen Inhalte einem Prozess weiterführender Symbolisierung zuzuführen und sie so nutzbar zu machen, denn Symbole seien die Voraussetzungen zum Denken, zum Abspeichern emotionaler Erfahrungen im Gedächtnis und zur Kommunikation unserer Gefühle an andere. Bush sieht eine Gefahr darin, den Begriff der Reverie zu weit auszudehnen und alle psychischen Aktivitäten im Analytiker darunter zu fassen und ihnen ein per se transformatorisches Potential zuzuschreiben; seiner Meinung nach wird dadurch „eine zentrale Methode des Analytikers“ behindert, nämlich „die Analyse seines inneren Assoziationsprozesses“ (S…), um nicht einem omnipotenten Glauben an sein eigenes Denken aufzusitzen.

 

In einer sehr interessanten Übersichtsarbeit beschäftigt sich Maria Rhode (London) mit den Objektbeziehungs-theoretischen Zugängen zum Autismus. Nach einer kurzen Darstellung der klassischen Autismusbeschreibungen von Kanner und Asperger wendet sie sich den Kontroversen und Debatten über den Autismus innerhalb der Psychoanalyse zu, in der das Interesse an unrepräsentierten Zuständen in der letzten Zeit zu einer erhöhten Sensibilität gegenüber autistischen Phänomenen, auch bei Erwachsenen, geführt hat. Im Gegensatz zu anderen Wissenschaften, die Autismus als Folge von genetischen Faktoren sehen, die epigenetisch durch soziale Umweltfaktoren modifiziert werden können, betrachten Psychoanalytiker Autismusphänomene eher als einen Versuch, „mit katastrophalen Ängsten oder Defiziten umzugehen, die sich aus dem Zusammenspiel zwischen Umwelt und der angeborenen Ausstattung des Kindes ergeben“ (S….). Im Weiteren schildert sie ausführlich theoretische Konzeptualisierungen autistischer Phänomene von psychoanalytischen Autoren, die in der Objektbeziehungstradition stehen und wendet sich autistischen Zuständen bei anderen Syndromen in Kindheit und Erwachsenenalter zu. Abschließend stellt sie ihre Überlegungen zu aktuellen Fragen im Zusammenhang mit dem Autismusthema vor, so etwa, welche Modifikation in der Behandlungstechnik erforderlich sind, welche Verbindungen zwischen autistischen Phänomenen und anderen psychoanalytischen Konstellationen bestehen und anderes mehr. Rhodes Artikel stellt dem Leser eine sehr wertvolle Zusammenstellung verschiedener psychoanalytischer Zugänge zum Verständnis von autistischen Phänomenen zur Verfügung.

 

Catalina Bronstein (London) untersucht in ihrem Artikel Wahn und Wiedergutmachung die reparative Funktion wahnhafter Systeme. Freud hatte den Wahn als eine Art Selbstheilungsversuch verstanden, mit dem das Ich versucht, nach einem Zusammenbruch eine Welt wieder aufzubauen, in der es leben kann, allerdings um den Preis eines Realitätsverlustes. In Anlehnung an M. Klein hält C. Bronstein dafür, nicht nur die Struktur des Ichs zu beachten, sondern auch die unbewussten Fantasien, die mit den Objekten verbunden sind und die in abgespaltener Form Teil des Wahnsystems sind und sich in der Übertragung manifestieren können. Sie meint, dass Wahnsysteme nicht nur eine Schutzfunktion für das Ich darstellen, sondern auch für die Objekte, nämlich für die Reste des guten internalisierten Objektes. In diesem Sinne kann von einer Wiedergutmachungsfunktion des Wahnsystems gesprochen werden. Anhand eines ausführlichen Fallbeispiels mit einer psychotischen Jugendlichen illustriert sie ihre Auffassung, dass ein Wahnsystem eine  reparative Funktion haben kann und dazu dient, einen Kontakt zu einem hilfreichen Objekt so gut es geht aufrecht zu halten.

 

Richard B. Zimmer (New York) widmet sich in seinem Aufsatz  Der gesunde Menschenverstand – Verwendung, Missbrauch, Fallstricke  einem in alltäglichem Sprachgebrauch weit verbreitetem Begriff unter psychoanalytischen Gesichtspunkten. Er ist der Meinung, dass es sich dabei um eine „Ansammlung disparater Denkweisen“ (S. …) handelt, die ihre Wurzeln in frühen Objektbeziehungsgrundlagen des Denkens haben. Im analytischen Diskurs können Sequenzen, die wie gesunder Menschenverstand erscheinen, sehr unterschiedliche Funktionen haben: Sie können Entwicklungen und Bewegungen ermöglichen, aber auch einen Widerstand bilden und so zu schmerzlichen Sackgassen und Stillständen führen. Zimmer möchte die dem Gefühl des gesunden Menschenverstandes zugrunde liegenden Fantasiestrukturen  erforschen und diese dem Analytiker für den Behandlungsprozess nutzbar machen. Er meint, dass sich hinter dem gesunden Menschenverstand eine weit verbreitete, wenn nicht sogar universelle Fantasie über eine menschliche Eigenschaft ausdrückt, eine Vorstellung, die durchaus Auswirkungen auf den analytischen Diskurs haben kann. Das mit einer Position des gesunden Menschenverstandes verbundene Gefühl schaffe bei seiner Mitteilung eine angenehme Stimmung von Gemeinsamkeit zwischen den Beteiligten, oft verbunden mit einem Gefühl der Überlegenheit gegenüber anderen, die nicht über eben diesen gesunden Menschenverstand verfügen. Zimmer sieht als genetische Grundlage dieses Gefühls die Erfahrung gelingender Interaktionen zwischen dem kleinen Kind und der containenden Mutter an, die ihrem Kind die projizierten Beta-Elemente in verdauter Form wieder zurückgibt und damit entängstigt und Spannung reduziert. Insofern knüpfen Momente des gesunden Menschenverstandes in regressiver Weise an frühere dyadische oder triadische Affekte und Fantasien an, die mit eher rudimentären Formen des Denkens assoziiert sind. Anhand verschiedener Fallbeispiele beschreibt der Autor anschaulich Möglichkeiten und Gefahren beim Auftauchen dieses Gefühls des gesunden Menschenverstandes im analytischen Prozess.

 

Mit einem klassischen Gegenstand der Psychoanalyse, der Angst beschäftigt sich Rosine Jozef Perelberg (London) in ihrem Aufsatz  Das Rätsel der Angst – zwischen Vertrautem und Unvertrautem. Sie rekapituliert zunächst die erste Angsttheorie (Angst entsteht aus einem Überschuss von nicht repräsentierter bzw. symbolisierter Triebenergie) und die zweite Angsttheorie Freuds (Angst hat Signalfunktion, warnt vor der Wiederkehr traumatischer Erfahrungen der Vergangenheit) und stellt dann ein ausführliches Fallbeispiel dar.  Ihr Patient hatte unter einer reiferen Ebene, auf der Schuld- und Schamthemen und eine Unsicherheit hinsichtlich seiner sexuellen Orientierung eine Rolle spielen, eine tiefere Schicht der Erfahrung, auf der der eigene Körper als fragmentiert erlebt wurde, was mit großen Ängsten verbunden war, die durch körperliche Symptome (zum Beispiel Verletzungen infolge von mehreren Unfällen) in Schach gehalten werden mussten. Sie interpretiert dieses acting out als Hinweis auf eine tiefe Angst, von einem übermächtigen vereinigten elterlichen Objekt überwältigt und vereinnahmt zu werden, das keinen Platz für einen Dritten lässt; Perelberg spricht hier von der Figur des „ermordeten Vaters“. Das Rätsel besteht für sie darin, dass es neben der Angst vor einer Fusion mit der phallischen Mutter auch einen Wunsch eben danach gab, der sich in promisken Sexualpraktiken ausdrückte. Diese archaischen Ängste werden „nachträglich transformiert“ und mit einer weiteren Bedeutung versehen, die das Archaische retrospektiv interpretiert und resexualisiert“ (S…., Fußnote).

 

Delaram Habibi-Kohlen (Köln) untersucht die Wege der Gegenübertragung im Analytiker. Dabei nimmt sie insbesondere Bezug auf das in Südamerika verbreitete Feldkonzept, in dem die Übertragungs-/ Gegenübertragungsprozesse als ein von beiden Beteiligten gemeinsam gestaltetes Geschehen verstanden wird, in dem Patient und Analytiker eine „grundlegende unbewusste Fantasie“ entwickeln, die beide verändert und die gleichzeitig fortlaufend von beiden verändert wird. Damit sind nicht nur die inneren Objekte des Patienten, sondern auch diejenigen des Analytikers ständig präsent im analytischen Prozess und beeinflussen die Ausgestaltung von Übertragung und Gegenübertragung. In einem ausführlichen und sehr instruktiven Fallbeispiel schildert sie eindrucksvoll, wie sie die Arbeit an der gemeinsamen unbewussten Fantasie versteht: Die Ängste der Patienten geraten in eine Resonanz mit den eigenen inneren Objekten der Analytikerin, die diese schwierige Verwicklung in der Gegenübertragung durcharbeitet und auf diese Weise zu einem besseren Verständnis der Patientin und zu einem veränderten Umgang mit den Beziehungsangeboten der Patientin gelangt.

 

Björn Salomonsson (Stockholm) beschäftigt sich in seinem Aufsatz Die Funktion der Sprache in der Eltern-Kind-Psychotherapie mit der Frage, inwieweit verbale Mitteilungen der Eltern oder des Analytikers einen Einfluss auf die innere Stimmung und das Verhalten eines Babys haben können, das den semantischen Inhalt der Worte noch nicht verstehen kann. Zum einen gebe es natürlich die Möglichkeit, über die nonverbalen Elemente – Tonfall, Stimmlage, Lautstärke usw. – des Gesprochenen Botschaften an das Kind zu senden, auf das dieses reagiere. Bedeutsamer ist aber für den Autor ein Gedanke, der sich auf die Tradition der französischen, insbesondere der Lacanschen Psychoanalyse bezieht: Das Sprechen mit dem Baby weist dieses daraufhin, dass es eine symbolische Ordnung gibt und „das sein Gebrauch dieser Ordnung Charakteristika hat, die sich von denen seiner Eltern unterscheiden, was dem Baby hilft, seine Verzweiflung zu überwinden“ (S …). Nach einem kurzen Fallbeispiel, in dem der Analytiker sehr direkt die Gefühle eines sieben Monate alten Babys anspricht, das vor dem Blickkontakt mit seiner Mutter ausweicht, diskutiert er unter Zuhilfenahme der Zeichentheorie von C. S. Pierce, inwieweit bereits Babys sich in Zeichensytemen bewegen. Im Sinne von F. Dolto plädiert er dafür, mit Kindern, auch schon mit Babys, wahr zu sprechen (parler vrai), das heißt in einer Art und Weise, in der Melodie, Mimik und verbaler Inhalt miteinander übereinstimmen und nicht widersprüchliche Bedeutungen transportieren.

 

Einem gesellschaftlich aktuellen Thema wendet sich Alessandra Lemma (London) zu in ihrem Artikel Trans-itorische Identitäten: Einige psychoanalytische Überlegungen zu Transgender-Identitäten. Sie diskutiert zunächst den Identitätsbegriff und seine Verwendung in der Psychoanalyse und vertritt die Auffassung, dass in der heutigen Zeit mit ihren vielen Wahlfreiheiten hinsichtlich der Selbstverwirklichung das, was früher als Identität bezeichnet worden ist, eher den Charakter von „aquisitorischen Imitationen“ (S…) hat, dass also Imitation über Identität triumphiert habe. Auch die biologische Wurzel des Identitätsgefühls, unser Körper, kann heute manipulierenden Prozessen unterworfen werden bis hin zur Veränderung des dysphorisch erlebten eigenen Geschlechtes. Transgender bedeutet dann, den eigenen Körper an die subjektiv erlebte Geschlechtsidentität anzupassen bzw. ihn dieser zu unterwerfen. Eine Transgender-Identität kann Selbstwert-stärkend sein, und Lemma sieht die Gefahr, dass es bei einer zu frühen Aneignung derselben zu einer „Unterminierung“ der schmerzhaften psychischen Arbeit kommen kann, die für die postoperative Adaptation unablässig sei. Die Gefahr ist groß, denn, so Lemma, „Trans“ sei nicht mehr ein Hinweis auf Marginalität, sondern habe sich zu einem zentralen kulturellen Standpunkt entwickelt. (S. …). Für Jugendliche, die in ihrer Geschlechtsidentität verunsichert und verwirrt seien, biete die Transgender-Identität eine willkommene Möglichkeit, eine neue innere Ordnung herzustellen, die gar nicht unbedingt in voller Konsequenz auf der körperlichen Ebene nachvollzogen werden müsse. Eine Transidentität kann Angst binden, die nichts mit dem Geschlecht zu tun hat. Anhand einiger kurzer Fallbeispiele zeigt Lemma, wie belastend die Arbeit mit diesen Patienten sein kann. Die subjektiv oft als drängend erlebte Not verlangt Handeln, während der Analytiker Zeit gewinnen möchte für die analytische Arbeit, was dem Bestreben des Patienten nach raschen Veränderungen zur Stabilisierung seiner fragilen Identität zuwider läuft. Die Autorin plädiert dafür, sich offen zu halten in der eigenen Haltung, ob die Geschlechtsumwandlung als Ausdruck einer Pathologie oder als kreative Selbstgestaltung aufzufassen ist.

 

Einem aktuellen politischen Thema, das weltweit gesellschaftliche Bedeutung besitzt, wendet sich Adela Abella (Croix-de-Rozon, Schweiz) zu: Sie wirft die Frage auf, ob die Psychoanalyse zu einem Verständnis des Fundamentalismus beitragen kann. Ihr Vorgehen ist dabei behutsam, wie der Titel Kann die Psychoanalyse zu einem Verständnis von Fundamentalismus beitragen? Einführung in ein weites Feld gleich deutlich macht. Sie ist grundsätzlich der Überzeugung, dass die Psychoanalyse fruchtbare Beiträge zum Verständnis fundamentalistischer Phänomene leisten kann, mahnt aber dann sofort zur Vorsicht, um nicht in „reduktionistisches und überinterpretierendes Spekulieren“ (S…) zu verfallen. Die psychoanalytische Perspektive sei nur eine von verschiedenen Blickwinkeln, unter denen man diese Phänomene betrachten könne. Sie lehnt Versuche ab, so etwas wie eine typische Psychopathologie eines Fundamentalisten zu entwerfen und weist stattdessen daraufhin, dass es sehr verschiedene Wege gibt, wie ein Individuum zur Übernahme einer fundamentalistischen Doktrin gelangen kann. Es gibt also nicht die typische Biografie oder Persönlichkeitsstruktur des Fundamentalisten, sondern viele individuelle Wege, zu deren Verständnis die Psychoanalyse aber sehr Wesentliches beitragen könne. Stichworte hierzu sind etwa die identitätsstiftende Funktion fundamentalistischer Überzeugungen, die Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse und der Sehnsucht nach einer Sinnfindung im Leben, weiterhin die Suche nach aufregenden Abenteuern in bedingungsloser Freundschaft mit der Aussicht auf ewigen Ruhm und anderes mehr. Die Psychoanalyse kann auch zum Verständnis der Gruppendynamik hilfreich sein, die einen wichtigen Einflussfaktor zum Verständnis fundamentalistischer Phänomene darstellt. Mit einer überraschenden Wendung zur Schluss betrachtet die Autorin schließlich die Kultur unserer psychoanalytischen Institutionen ebenfalls unter diesem Blickwinkel und diagnostiziert eine gar nicht seltene Tendenz, den kollegialen Austausch durch mitunter quasi fundamentalistische Positionen mit manchmal „toxischer Wirkung“  (S…) einzuengen oder zu verhindern.

 

Der letzte Abschnitt des vorliegenden Bandes ist zwei prominenten Vertretern der französischen Psychoanalyse gewidmet, die in Deutschland wenig bekannt sind. Mit dem Denken eines wichtigen Autors der französischen Psychosomatik, Michel Fain, macht uns Marilia Aisenstein (Paris) bekannt. Nach einer kurzen Darstellung seiner multikulturellen Wurzeln und seiner Biografie beschreibt sie seinen fachlichen Werdegang als Mediziner, Psychiater und Psychoanalytiker, der sich nach dem durch Lacan 1953 ausgelösten Bruch in der französischen Psychoanalyse der Pariser Psychoanalytischen Gesellschaft (SPP) zuwandte. Aisenstein ordnet zunächst das Werk Fains, das kein zusammenhängendes Oevre darstellt, anhand von drei Bereichen oder „Achsen“. Diese sind: „Das Schlaf-Traum-System und die Funktion des Traumlebens“, die Rolle von traumatischen Erfahrungen in frühen Phasen, die zum Zerfall von psychischen Strukturen (démentalisation) führen und schließlich die sogenannten hysterischen Identifizierungen, die Fain als „Herzstück des alltäglichen Seelenlebens“ (Aisenstein) auffasst. Im Weiteren stellt die Autorin wichtige Konzepte und theoretische Überlegungen in chronologischer Reihenfolge vor. Im Werk M. Fains nimmt der Körper, nicht als biologisches Soma, sondern im Sinne eines lebendigen und erotischen Leibes, eine zentrale Stellung ein. Mit seinen Überlegungen trug Fain, gemeinsam mit seinem Schwager Pierre Marty und mit Michel de M‘Uzan wesentlich zur Entwicklung des Konzeptes des operationalen Denkens der Pariser Psychosomatischen Schule bei. Immer wieder kommt er in seinen Texten zur Psychosomatik auch auf den Aspekt des Traumatischen im Sinne eines Zusammenbrechens des Reizschutzes mit der Folge einer Störung höherer psychischer Funktionsweisen zurück. – Aisenstein bringt dem Leser, der sich für die französischen Psychoanalyse und insbesondere für die Konzepte der französischen Psychosomatik interessiert, das Denken und die metapsychologischen Überlegungen Michel Fains nahe, dessen Werk bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden ist.

 

Antoine Nastasi (Paris) widmet sich der französischen Psychoanalytikerin Evelyne Kestemberg und der Bedeutung der von ihr entwickelten Konzepte, die im deutschsprachigen Raum ebenfalls eher wenig bekannt sein dürften. Sie sammelte schon früh Erfahrungen in der Behandlung von psychotischen Patienten und versuchte, eine psychiatrische und eine psychoanalytische Perspektive miteinander zu integrieren. Um zu verstehen, wie mit der Desorganisation der Verbindung zwischen Subjekt und Objekt umgegangen werden könnte, entwickelte sie besondere Konzept, wie etwa „die fetischistische Objektbeziehung“, „das dritte Element (le personnage tiers)“ und „die kalte Psychose“. Sie erweiterte die Metapsychologie und beschäftigte sich besonders mit dem Selbst und seinem Schicksal im Laufe der Entwicklung und im Falle psychotischer Desorganisation. Besondere Bedeutung besitzt dabei das Konzept der „kalten Psychose“ als eines psychotischen Funktionsmodus ohne manifeste Wahnbildung. Abschließend erläutert Nastasi sein eigenes Konzept der fragmentierten Übertragung, das auf den Überlegungen von E. Kestemberg aufbaut.

 

Mein abschließender Dank geht an dieser Stelle an Frau Marie-Claire Thun vom Psychosozialverlag, die den ganzen Prozess der Erstellung des vorliegenden Bandes in guter und flexibler Zusammenarbeit gestaltete.

Dr. Karsten Münch